
Warum der Wirbel um die „Coldplay-Affäre“ so problematisch ist
Eine Affäre fliegt auf – und die Welt sieht zu
© WIENERIN
Ein offenbar beruflich erfolgreiches Pärchen wird bei einem Konzert eng umschlungen gefilmt – und geht viral. Es heißt: Sie sind verheiratet, aber nicht miteinander. Warum hat uns das so bewegt, dass die Sache in einer Art digitaler Steinigung gipfelte?
Sie haben doch auch geschmunzelt, oder? – Ich oute mich: Ich habe es im ersten Moment getan, im zweiten das Handy grinsend Freund:innen unter die Nase gehalten – und im dritten Moment mich über die Dreistigkeit des Paars geärgert, das angeblich beim Fremdgehen inmitten eines Coldplay-Konzerts via „Kiss Cam“ erwischt wurde.
Ein bisschen war ich schon überrascht, dass das Video mit den beiden peinlich berührten Erwachsenen, die sich sogar zu verstecken versuchten, über den Kanal eines Qualitätsmediums in meinen Instagram-Feed gespült wurde. Umso glaubwürdiger erschien aber damit der Post. „Fremdgehen ist eine Sache, aber dann an einem öffentlichen Ort eng umschlungen zur Musik schunkeln?!“, diskutierten wir im Freundeskreis. „Wie muss es da den Partner:innen gehen?“
Die Sensation war schließlich gar nicht die aufgeflogene Affäre an sich, sondern die Tatsache – eben darum wohl die internationale Berichterstattung –, dass das Video innerhalb kurzer Zeit viral ging. Die Zahlen variieren, aber es ist die Rede von 60 bis über 100 Millionen Views.
Das stellt „eine ganz neue Liga des Beschämtwerdens“ dar, analysierte die Autorin und Expertin für digitale Medien Ingrid Brodnig in ihrer Kolumne im DerStandard. Denn das Publikum sah nicht nur zu und teilte beherzt das Video; der Clip wurde auch – mitunter schonungslos – kommentiert und avancierte sogar zur Inspirationsquelle für Werbung. Die Baumarktkette Obi positionierte in einem Instagram-Post eine Senkrechtmarkise über das vieldiskutierte Paar – und schrieb dazu: „Wenn ihr sichergehen wollt, dass euch die Kiss Cam nicht erwischt.“ Es regnete dafür mehr als 13.000 Likes und Hunderte Kommentare. Die meisten waren begeistert, es tauchten aber auch Kritiker:innen auf. „Ja, über Affären lässt sich moralisch diskutieren, aber nicht so. Nicht vor Millionen, nicht mit irgendwelchen Gifs und Reactions und schon gar nicht auf dem Rücken derer, die eh schon mitten im Scherbenhaufen stehen. Anstand heißt auch: Grenzen kennen (…)“, schrieb eine Userin.
„Ich hege den Verdacht: Solche Geschichten reisen auch um die Welt, weil sie vergleichsweise leichte Kost sind. Im Vergleich dazu wirkt die Nachrichtenlage oft komplex und erdrückend“, schrieb Ingrid Brodnig in ihrer Kolumne weiter.
Futter für Schadenfreude
Aber warum hat dieses Video überhaupt so viele Menschen unterschiedlichen Alters und Backgrounds bewegt? Die Suche nach Antworten führte uns in die Schweiz: zur Medienpsychologin Lilian Suter. Sie ist Dozentin am Psychologischen Institut der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und promoviert zum Thema Schadenfreude.
Die Kiss-Cam-Sache ist für die Forscherin ein „Paradebeispiel“, „das Video enthält einige ,Zutaten‘, die typisch für Schadenfreude sind“, sagt sie – und betont aber: „Gleichzeitig tat es mir leid, dass die Beziehung der beiden auf dem halben Globus besprochen wurde. Ich fürchte, das hatte auch negative Konsequenzen für die Familien der beiden.“
Dass es überhaupt so weit kam, also dass das Video so oft geliked und geteilt wurde, sei vermutlich daran gelegen, dass gleichzeitig mehrere Faktoren die Schadenfreude nähren. „Die beiden verstecken sich vor der Kiss Cam: Sie verraten also durch ihr Verhalten, dass sie offenbar etwas Unrechtes bzw. etwas Unmoralisches tun. Damit fliegt ihre Affäre auf, und es liegt für sie ein Schaden vor. Das Aufdecken des Fehltritts wird von den Zuschauenden aus als verdient wahrgenommen – sie freuen sich sogar darüber. Womöglich sogar noch mehr, als sich später herausstellt, dass es sich um einen CEO und seine HR-Chefin handelt.“ Der hohe berufliche Status verführe uns „Otto-Normal-Verbraucher“ nämlich quasi zu schadenfrohen Gedanken wie: „Super, auch die auf der Überholspur können sich nicht alles erlauben.“
„Ein weiterer Faktor, warum das Video womöglich so gut ankam, ist der comichafte, fast slapstickartige Aufbau des Videos: Die Frau entdeckt sich in der Kiss Cam – und will sich instinktiv ,verstecken‘, indem sie zuerst die Hände vor die Augen hält und sich dann mit dem Rücken zur Kamera dreht. Das ist eigentlich ein kindliches Verhalten: Ich sehe dich nicht, du siehst mich nicht. Einen Moment später duckt sich der Mann nach unten aus dem Kamerabild. – Die Szene könnte aus einem Comedyfilm stammen“, sagt die Medienpsychologin Lilian Suter. „Dass die Szene bei anderen Konzerten imitiert wurde, ist auch ein Hinweis darauf, dass das Verhalten der beiden so einprägsam war.“
Sollten wir ein schlechtes Gewissen haben, dass wir gemeinsam darüber geschmunzelt haben? Ist es verwerflich, dass uns der Clip prinzipiell interessiert hat? – „Es ist eher menschlich, schließlich besticht das Video durch Humor und eine moralische Komponente, auf die Menschen nun mal ,anspringen‘“, stellt Lilian Suter klar.
Was problematisch ist
Beim Teilen und Schmunzeln blieb es aber eben nicht. Das Video trat ebenso eine Lawine an bösen Kommentaren los, Expert:innen sprechen etwa von „Social Media Shaming“ oder „digitale Steinigung“. Die Logik von Social Media fördere schon generell die Verbreitung von emotionalen Inhalten, insbesondere von moralischen Emotionen, zu denen auch Schadenfreude zählt, erklärt die Forscherin. „Wie sagt man so schön: ,Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.‘ – In der Medienpsychologie nennen wir das Phänomen ,moral outrage‘: Studien zeigen, dass die moralische Empörung als Reaktion auf die Verletzung von moralischen Standards – hier: Verletzte Treue gegenüber Ehepartner:innen – auf Social Media besonders schnell stattfindet und viral geht.“
Auch Lilian Suter vermutet – wie eingangs von Ingrid Brodnig beschrieben –, dass für einige User:innen die eigene Unterhaltung dermaßen im Vordergrund steht, dass schlicht ausgeblendet wird, was das Teilen des Videos für die jeweiligen Personen bedeutet und welche Konsequenzen es hat. „Man versetzt sich womöglich weniger in die Personen hinein, man hat eine gewisse Distanz. Wir betrachten sie womöglich nicht als jemanden, den wir zu unserem engen Kreis zählen, sondern eher zur Out-Group, also zu einer anderen Gruppe, mit der wir nicht viel gemeinsam haben.“
Wechseln wir einmal wertfrei die Perspektive: Was bedeutet solch ein Tsunami an Reaktionen für die jeweils Betroffenen psychisch? „Die Situation ist sicher belastend und herausfordernd“, sagt die Zürcher Medienpsychologin. „Wahrscheinlich entsteht ein Gefühl, dass die ganze Welt gegen einen ist und man gleichzeitig ohnmächtig ist und nicht wirklich etwas dagegen unternehmen kann. Kritische negative Kommentare und Beleidigungen können die Betroffenen zusätzlich erschüttern.“
Ein Beispiel von vielen: Eine österreichische Moderatorin erlitt vor Jahren nach einem Shitstorm als Reaktion auf eine „unglückliche“ Aussage einen Nervenzusammenbruch. Sie lehnte die aktuelle WIENERIN-Interviewanfrage dazu höflich ab, weil sie lieber nicht (namentlich und öffentlich) auf diese Episode ihres Lebens zurückschauen möchte.
Was wir aus der Coldplay-Affäre lernen können
Ehe wir handeln, sollten wir uns folgende Fragen stellen, empfiehlt Lilian Suter: Ist die Empörung wirklich berechtigt – oder gegebenenfalls übertrieben? Und: Wollen wir zur Empörung beitragen, indem wir Reels liken, kommentieren und teilen? „Die Empörung geht im Endeffekt auf Kosten der betroffenen Personen. Wäre die Person eine Freundin oder ein Familienmitglied, würde man da das Video auch teilen?“
In ihrem Blogartikel „Beruhigt euch!“ zitiert Ingrid Brodnig den Internetexperten Patrick Breitenbach: „Ein großes Missverständnis ist: Empathie heißt nicht, dass ich alles gut finden muss, was der andere sagt (oder in dem Fall tut, Anm.). Aber man kann ein Stück weit versuchen, sich in ihn hineinzuversetzen.“
Hörtipp und Lesetipp
- Podcast „Psychologie Konkret“: Folge „Schadenfreude ist die schönste Freude?“ mit Medienpsychologin Lilian Suter
- Blog/Newsletter-Abo von Medienexpertin Ingrid Brodnig, www.brodnig.org