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Zappelnde Kinder, die nicht ruhig sitzen können und ständig nach Aufmerksamkeit lechzen: Diese oder ähnliche Assoziationen kommen auf, wenn man an ADHS denkt. Dass die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung auch Erwachsene betreffen kann, ist hingegen eine recht neue Erkenntnis Prominente wie Will Smith oder Paris Hilton etwa sprachen zuletzt öffentlich über ihre Diagnose, nach heutigen Erkenntnissen soll sogar Leonardo da Vinci an ADHS erkrankt gewesen sein. Auf Tik-Tok zählen Videos mit dem Hashtag #adhs mittlerweile zu den meistgeschauten. Wir haben im Gespräch mit der Innsbrucker Psychiaterin Silvia Erler herausgefunden, was hinter der Erkrankung steckt, mit welchen Vorurteilen Betroffene konfrontiert werden und wie sinnvoll Selbsttests sind.
Können Sie kurz erklären, was ADHS genau ist? Was passiert dabei im Gehirn?
Silvia Erler: Bei ADHS handelt es sich um eine häufige Erkrankung, die im Kindesalter beginnt und oft bis ins Erwachsenenalter fortdauert. Die Kernsymptome bestehen in Unaufmerksamkeit, motorischer Überaktivität und Impulsivität. Die Diagnose betrifft knapp sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen und circa zweieinhalb Prozent der Erwachsenen. Bei Betroffenen sind die Regelkreise im Gehirn für die Hemmung oder Verzögerung von Reaktionen und für die sogenannten exekutiven Funktionen sowie die Motivation verändert – darunter fallen etwa das Arbeitsgedächtnis, die Planung und Ausführung von Handlungen, emotionale Einflüsse auf das Handeln und die Fähigkeit, mehrere Aufgaben nach Wichtigkeit zu priorisieren und nichts zu vergessen. Diese Regelkreise befinden sich unter anderem in Teilen des Stirnhirns und im tieferen Kern des Gehirns, die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Veränderungen kann man auch in funktionellen Bildgebungsverfahren sichtbar machen: Menschen mit ADHS zeigen eine Überaktivierung in bestimmten Hirnregionen, die sich nach der Gabe von speziellen ADHS-lindernden Medikamenten normalisiert. Man könnte sagen, eine Person mit ADHS muss mehrere Regionen ihres Gehirns „anzapfen“ beziehungsweise bestimmte Hirnregionen intensiver beschäftigen als eine Person ohne ADHS. Mit der entsprechenden Behandlung muss sie das nicht mehr in diesem Ausmaß.
Menschen mit ADHS sprühen oft vor Ideen.
Silvia Erler, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin
Lange war ADHS hauptsächlich als Kinderkrankheit bekannt. Doch zuletzt sprechen auch immer mehr Erwachsene öffentlich über ihre Diagnose. Woran liegt das?
Die Akzeptanz der Erkrankung hat in den letzten Jahren stetig zugenommen. Immer mehr Menschen erkennen Hindernisse, die durch eine bislang unerkannte ADHS entstehen und möchten diese gerne ausräumen – etwa einen Karriereschritt machen, der ihnen sonst vielleicht nicht gelingen würde, ihre Beziehungen verbessern oder durch die Bewältigung ihrer eigenen ADHS lernen, mit ihrem Kind mit ADHS förderlicher umzugehen. Andererseits schätzen Betroffene aber auch manche Besonderheiten, die die Diagnose mit sich bringt und die auch einen Teil der Individualität einer Person ausmachen. Menschen mit ADHS haben zum Beispiel eher keine Probleme damit, spontane Entscheidungen zu treffen, sie sprühen oft vor Ideen, sind begeisterungsfähig und offen.
Worin unterscheidet sich ADHS bei jungen und älteren Menschen?
Kindern – besonders Jungen – fällt es schwer, still sitzen zu können, Mädchen wiederum zeigen einen starken Rededrang. Generell haben Kinder Schwierigkeiten beim Beginn und beim Fertigstellen von Aufgaben. Es kommt zu Konflikten mit Eltern und Lehrpersonen, aber auch mit anderen Kindern – die Folge kann ein sozialer Ausschluss sein. Die Pubertät ist für Jugendliche mit ADHS und ihre Familien eine besondere Herausforderung. Jugendliche gehen stark in Opposition, haben „null Bock“, die Pubertät dauert länger. Sie entwickeln wegen Schulproblemen ein geringes Selbstwertgefühl und erleben sich meist als Außenseiter:nnen oder Versager: innen. Depressionen und Angststörungen sind keine Seltenheit, auch das Suchtrisiko ist erhöht. Es kommt zu riskanten Verhaltensweisen mit Unfällen und erhöhtem Verletzungsrisiko, auch Wutausbrüche kommen bei Kindern mit ADHS vermehrt vor. Viele sind „Underperformer:innen“, die hinter ihren Fähigkeiten zurückbleiben und eher die Schule abbrechen. Es fällt ihnen schwerer, Freundschaften zu erhalten, nicht selten werden sie Opfer von Mobbing. Interessanterweise haben Mädchen mit ADHS auch öfter Teenagerschwangerschaften. Erwachsene wiederum machen fallweise Flüchtigkeitsfehler, lesen Anleitungen ungenau, führen Aufgaben unsauber oder unvollständig aus. Sie können bei Vorträgen oder Besprechungen nicht lange zuhören, weil sie gedanklich abschweifen. Sie verlieren sich in Details und der „rote Faden“ kommt abhanden. Tagträume treten auf, während die Aufmerksamkeit bei der Arbeit sein sollte. Betroffene erleben sich immer auf Achse, spielen oft mit Gegenständen, wippen mit den Beinen und vermeiden Warteschlangen, da sie das Warten einfach nicht aushalten. Oft meinen sie, die Antwort auf eine Frage schon geben zu müssen, bevor diese fertig gestellt wurde. Dann platzen sie mit ihren Gedanken heraus oder fallen anderen ins Wort. Wenn sie eine Tätigkeit besonders interessiert, kann es zum sogenannten „Hyperfokus“ kommen – dann versinken sie regelrecht in einer Tätigkeit und vergessen alles um sich herum stundenlang, sogar Essen und Trinken. Betroffene gelten oft als „hitzige Gemüter“, haben eine geringe Stresstoleranz und Probleme damit, ihr Leben zu organisieren, Termine, Fristen und Vorgaben einzuhalten und mehrere Handlungen richtig zu priorisieren.
Auf Social Media kursieren viele ADHS-Selbsttests, häufig genannte Symptome sind Zerstreuung und ein Hang zur Prokrastination – also Dinge, die fast jede:r von sich kennt. Woran merke ich, ob ich tatsächlich ADHS-gefährdet bin?
Manchmal wurde die Diagnose bei einem anderen Familienmitglied bereits gestellt, denn bei ADHS gibt es eine familiäre Häufung oder man wird darauf aufmerksam, weil man von Familienmitgliedern oder guten Freund:innen darauf hingewiesen wird, dass man immer wieder zu spät komme, sich verzettle, chaotisch sei, ständig nervös wirke, und das wohl immer schon so war. Wenn man selbst das Gefühl hat, dass diese Verhaltensweisen so gehäuft und intensiv auftreten, dass Schule, Ausbildung oder Beruf Probleme machen, Freundschaften leiden und man nicht das Leben führen kann, das man eigentlich könnte, sollte man daran denken, dass eventuell eine ADHS dahinterstecken könnte.
Wohin kann man sich wenden, wenn man die Vermutung hat, von ADHS betroffen zu sein?
Selbstfragebögen im Internet können einen ersten Anhaltspunkt geben, eine genaue Abklärung bei Erwachsenen kann ein:e Fachärzt:in für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin durchführen. Auch Klinische Psycholog:innen können eine Einschätzung geben, eine ergänzende ärztliche Untersuchung ist aber jedenfalls erforderlich. Für Studierende gibt es in Innsbruck die Möglichkeit, sich an die Erstanlaufstelle S-AAL zu wenden – eine Serviceeinrichtung für Studierende mit Aufmerksamkeitsstörungen, Autismus und Lernstörungen.
Wie wird die Diagnose gestellt?
Die Diagnose wird grundsätzlich durch eine Erhebung vorhandener Symptome mittels eines diagnostischen Gespräches durch den Arzt bzw. die Ärztin gestellt. Dieses wird idealerweise durch ein standardisiertes Interview und/oder einen detaillierten Fragebogen zur Selbsteinschätzung und, wenn möglich, die Fremdeinschätzung durch eine Vertrauensperson ergänzt. Psychodiagnostische Leistungstests können ebenfalls zusätzliche Hinweise geben, eine Diagnose aber nicht immer hundertprozentig sichern oder ausschließen. Eine ärztliche Untersuchung inklusive Blutanalyse und eventuell eine bildgebende Abklärung mittels Magnetresonanztomografi e wiederum geben Aufschluss über eine mögliche ADHS-Symptomatik, die infolge bestimmter körperlicher Erkrankungen auftreten kann. ADHS wird ja bei Frauen weniger häufig diagnostiziert.
Woran liegt das?
Bei Jungen wird ADHS etwa zwei bis drei Mal so oft diagnostiziert wie bei Mädchen; im Verlauf des Lebens gleicht sich das Verhältnis aber an. Die Ursache ist nicht genau bekannt. Bei Jungen ist die Diagnose später häufig nicht mehr nachweisbar, während eine einmal gestellte Diagnose bei Mädchen eher auch im Erwachsenenalter noch bestehen bleibt.
Mit welchen Vorurteilen sehen sich Menschen mit ADHS konfrontiert?
Viele Vorurteile lauten, dass Betroffene faul – vielleicht sogar dumm – seien. Sie könnten ja leisten, wenn sie nur wollten, seien Störenfriede oder einfach nur „schlecht erzogen“. Diese falschen Zuschreibungen behindern aber die Entwicklung von Menschen mit ADHS und verursachen ein niedriges Selbstwertgefühl.
Welche Rolle spielt ADHS in Bezug auf Partnerschaften, Beruf, Familie oder Freund:innen?
Gerade Menschen mit unerkannter ADHS leiden oft in zwischenmenschlichen Beziehungen. Es entstehen gegenseitiges Unverständnis, Konflikte und Vorwürfe, manchmal vergrault man Freund:innen mit unbedachten Äußerungen. Betroffene verlieren leichter ihren Arbeitsplatz. In der Familie kommt es zu täglichen „Kämpfen“ um anstehende Aufgaben. Bei einer guten Behandlung und Kompensation können Menschen mit ADHS aber auch wertvolle Fähigkeiten in Beziehungen einbringen, weil sie begeisterungsfähig, spontan und offen sind und oft ungewöhnliche Ideen haben.
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Die Behandlungsmöglichkeiten umfassen sowohl medikamentöse als auch nicht medikamentöse Maßnahmen. Medikamente sind in bestimmten Fällen und Lebensphasen auch bei Erwachsenen unbedingt ratsam, da sie das Leben unglaublich erleichtern können, indem sie die Kernsymptome der ADHS lindern. Bei manchen Betroffenen helfen auch nicht medikamentöse Maßnahmen wie etwa Psychoedukation, Coaching oder Psychotherapie in Einzel- oder Kleingruppen. Diese Maßnahmen fördern das eigene Verständnis der Erkrankung und helfen Betroffenen dabei, mit ihren bestehenden Symptomen einen besseren Umgang zu finden und die Lebensqualität langfristig zu verbessern.
ÜBER:
In ihrer Innsbrucker Praxis betreut Silvia Erler Erwachsene, die von ADHS betroffen sind.
Mehr unter: www.psy-erler.at/
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